Am 13. April vor 77 Jahren wurden über 1.000 jüdische KZ-Häftlinge in Waldenburg befreit
Marktplatz in Grau-Weiß
Krieg – das ist unerwarteter Weise kein Begriff einer fernen Vergangenheit mehr, sondern wahr gewordene Wirklichkeit in Europa. Vor 77 Jahren fand der letzte Krieg in Waldenburg sein Ende, über das Zeitzeugenberichte absolute Raritäten darstellen. Freitag, der 13. April 1945 war ein schwarzer Tag, hielt der spätere Bürgermeister Paul Meinhold in einem dieser seltenen Berichte fest, den er am 1. September 1945 verfasst hatte. Dieses Juwel städtischer Geschichte trägt den Titel Waldenburg in Zeiten des Umsturzes und umfasst 42 auf Schreibmaschine abgefasste Seiten, aufbewahrt im Archiv des Museums – Naturalienkabinett.
Wie Meinhold lebendig schildert, harrten die Bewohner Waldenburgs am 13. April vor 77 Jahren fast dauerhaft in Luftschutzkellern aus, um ihr Leben vor den letzten intensiven Tieffliegerbeschüssen zu schützen. Meinhold, der im Waldenburger Rathaus das Herannahen der amerikanischen Truppen aus Thüringen erwartete, hielt indes eine ihn völlig verstörende Begebenheit auf dem Marktplatz fest:
Gegen 14 Uhr waren auf dem Marktplatz etwa 1.100 Konzentrationshäftlinge, teils zu Fuß, teils per Lastkaftwagen angekommen. Sie wurden aus der „Hasag“ in Altenburg entlassen und von der SS bis hierher befördert. Der Markt bot für künftige Stunden ein Bild des Grauens. Die Häftlinge waren von ihrem Arbeitsplatz weggerissen, schmutzig und noch in ihren grau/weiß gestreiften Kleidern und Mützen, vorn am Kleid oder Jacket die Häftlingsnummer und in den leichten Mänteln war auf dem Rücken ein Dreieck eingenäht.
Die Hugo-Schneider-AG (HASAG), die für die Rüstungsindustrie Waffen wie etwa Panzerfäuste produziert hatte, besaß neben dem Stammsitz in Leipzig ein Zweigwerk in Altenburg. Am 1. August 1944 eröffnete die SS hier für Frauen ein KZ-Außenlager (eines für Männer kam später dazu), das jedoch vom KZ Buchenwald aus verwaltet wurde. Die Frauen und Mädchen kamen aus Polen und Ungarn, waren jüdischen Glaubens, Sinti und Roma. Kranke, Alte und Arbeitsunfähige wurden nach Ravensbrück oder Auschwitz in die Vernichtung geführt. Die Arbeit für die anderen Frauen in Altenburg unter unmenschlichen Bedingungen fand am 12. April 1945, kurz vor dem Einmarsch amerikanischer Truppen, ein jähes Ende: Aus dem von der SS geräumten Lager wurden sie auf einen Todesmarsch getrieben, über dessen genaue Routen seit vielen Jahren die Heimatforscherin Christine Schmidt aus Breitenbrunn im Erzgebirge forscht. In Waldenburg endete der Todesmarsch der KZ-Häftlinge, gelang mit dem Einmarsch amerikanischer Truppen schließlich deren Befreiung - das betraf laut aktuellen Erkenntnissen allein über 800 jüdische Menschen aus Ungarn, die sich nun in dem ihnen völlig fremden Waldenburg befanden.
Nicht nur Meinhold, die Waldenburger insgesamt waren von dem Anblick dieser geschundenen Menschen entsetzt, allen voran, weil sie von den Zuständen in den Konzentrationslagern nichts mitbekommen hatten. So jedenfalls schildert es Meinhold, der die Schuld am Schicksal der Häftlinge bei Hitler, Himmler, den Ausführenden und Mitwissenden dieses unglaublich mörderischen Vergehens wissen wollte.
Während für viele historische Berichte eine solche Befreiung meist das Ende darstellt, geht der Bericht Meinholds viel weiter und wirft Licht auf eine kaum durchleuchtete Facette Waldenburger Geschichte. So verschweigt Meinhold nicht die weiterhin dramatisch angespannte Lage, die nach Kriegsende bestehen blieb: Die ehemaligen Häftlinge forderten nun offenbar energisch ihr Recht auf das Notwendigste zum Leben und Überleben ein, plünderten die Lebensmittelgeschäfte, die Einwohnerschaft beschwerte sich über Diebstähle (...) die Flüchtlinge wollten auf schnellstem Wege in ihre Heimat zurück, die K.-Z.-Häftlinge forderten mit ihrem vollen Recht mehr und besondere Kost, Kleidung, Wäsche, Schuhwerk und gute Wohnverhältnisse. Auch ganze Wohnungen wurden von den ehemaligen Gefangenen besetzt und Meinhold drückt die ganze Härte der nun anstehenden Aufgaben durch die Bemerkung aus, dass die Stadt Waldenburg fast am schwersten unter den wohlverstandenen Ausbrüchen der Häftlinge zu leiden gehabt hätte. Sicher ist, dass Meinhold nicht nur drei große Lager, wie etwa in der Gewerbeschule einrichten ließ, sondern auch eine Kleiderspende anordnete, bei der je über 1.000 Kleider und Anzüge gesammelt wurden. Es sollte noch bis zum 29. Juni dauern, bis die letzten ehemaligen jüdischen Häftlinge tatsächlich in ihre Heimat, vor allem in Osteuropa, zurückkehren konnten.
Ein Denkmal, eine Tafel oder ein Erinnerungsritual an die Befreiung der jüdischen Häftlinge und ihre knapp 10 Wochen in Waldenburg gibt es bislang nicht. Auch bleibt zu fragen, welche persönlichen und familiären Schicksale sich hinter den mehr als 1.000 Menschen verbargen: Manche Namen, wie der von Hedy Hirsch (geb. am 4. Juni 1927 im slowakischen Trnava) sind bereits bekannt, auch befindet sich im United States Holocaust Memorial Museum in Washington D.C. eine Liste mit den Namen von knapp 700 Menschen, die auf ihrem Todesmarsch bis nach Waldenburg kamen und für die mit ihrer hier erlebten Befreiung ein neues Kapitel ihres Lebens beginnen konnte. Der jetzige 77. Jahrestag der Befreiung dieser Menschen ist eine Chance, ihren Schicksalen künftig eine gebührende Stelle in der Erinnerungskultur der Stadt zu geben. Nicht zuletzt kann und muss so auch an die Nöte erinnert werden, die im Kriegsfall auf jeder Seite entstehen - damals wie heute.
Bis heute sind zur unmittelbaren Nachkriegszeit Waldenburgs kaum Berichte und erst Recht keine Fotografien bekannt. Sollten Sie persönliche Erinnerungen an diese Zeit haben, Berichte oder Fotografien von Verwandten besitzen und diese mit uns teilen wollen, bitten wir Sie um Kontaktaufnahme mit der Museumsleiterin Fanny Stoye, f.stoye@waldenburg.de oder unter + 49 37608 16060.